buchspektrum Internet-Buchhandlung

Neuerscheinungen 2016

Stand: 2020-02-01
Schnellsuche
ISBN/Stichwort/Autor
Herderstraße 10
10625 Berlin
Tel.: 030 315 714 16
Fax 030 315 714 14
info@buchspektrum.de

Barbara Eder

Die Morsezeichen der Zikaden


Sieben Erzählungen
2016. 82 S. 21 cm
Verlag/Jahr: DRAVA 2016
ISBN: 3-85435-780-X (385435780X)
Neue ISBN: 978-3-85435-780-3 (9783854357803)

Preis und Lieferzeit: Bitte klicken


Unterwegs an den verletzbaren Rändern Europas, quer durch vier Länder hindurch - es sind die umkämpften Gebiete entlang einer imaginären Grenze, die in Die Morsezeichen der Zikaden zu Schauplätzen einer anderen Evidenz werden. Neben Armenien, Georgien und der Ukraine gehört auch ein Dorf an der ungarisch-rumänischen Grenze zu dem umkreisten Territorium der Teilungen und Trennungen.
In sieben Erzählungen schreibt Barbara Eder über das Leben, Sterben, Arbeiten und Auswandern aus den verwundeten Zonen zwischen Asien und Europa, seinem Westen und seinem Osten. Die Protagonistinnen und Protagonisten der Geschichten morsen von Kriegsschauplätzen aus, wühlen in familiären Phantasmen, durchleben den Irrsinn von nicht enden wollenden Odysseen, kämpfen mit den Betriebsanleitungen von dysfunktionalen Vehikeln gleichermaßen wie mit den Stigmata ihrer Herkunft, werfen ihre Existenzen weg, finden sich anderswo wieder und machen weiter.
Es sind Außenseiter, Zurückgelassene oder durch Zufall in den Peripherien der ehemaligen Sowjetunion Gestrandete, die die Autorin in ihrem Buch zu Wort - und damit auch zur Sprache - kommen lässt. Diese ist nicht selten gebrochen und mit Wörtern aus anderen Sprachen durchsetzt. Es werden Zäsuren im Erzählfluss gesetzt, in der zeitweilig zerhackten Syntax manifestiert sich das Stocken der Rede in Anbetracht einer neuen Realität, die von Geld, Korruption und Entsolidarisierung beherrscht ist. Am Ende gibt es keine Gewissheiten mehr: Das Vertraute ist fremd geworden, die Mimikry ans Neue misslungen. Was bleibt, sind starke Affekte und eine existenziell irrwitzige Freiheit. Man nimmt sie sich nicht - man wird in sie gestoßen.
Unten bleiben, so lange wie möglich. Den Atemreflex unterdrücken und mit ihm alle anderen Automatismen des Organismus, tief unten, schwerelos, allein und auf sich gestellt. Unten bleiben, meinte auch Marco. Anders kann man hier den harten Winter nicht überleben, in den Senkkästen am Rande dieser Stadt. Seit Beginn der Versorgungskrise waren sie alle auf Tauchstation, mit Blick von unten auf diese Welt. Das Rauschen in den Latrinen des Wohnheims war an den Nachmittagen zu einem Tuten geworden, das vom Meer her kommen hätte können. Vielleicht aber kommt es von jenen Teilen der MIR, die vor vielen Jahren im Nordpazifik untergegangen sind, dachte Laura. Hier, im staatlichen Wohnheim Nummer fünf, war ihre Bewegung zum Stillstand gekommen und seither zweifelte sie nicht mehr daran: dass es der Weltraum ist, der hier beginnt, ohne Bahnhof und doch mit vielen Gästen: Fahnenflüchtigen aus Italien, Syrien, China, Zentralasien und Nordkorea.
Warten. Täglich, immer noch. Schon seit Monaten hätte Laura im Besitz einer Arbeitsgenehmigung sein sollen. Von gut bezahlter Arbeit war vor ihrer Ausreise die Rede gewesen; angekommen war sie in einer vier Quadratmeter großen Zelle, die Supermärkte der Stadt geplündert und die politische Situation instabil. Draußen krachte es auch dann, wenn gerade keine militärische Übung stattfand und die Funkverbindungen waren seit mehr als einer Woche unterbrochen. Wie es sich anfühlt, abgeschnitten von der Welt und fernab von Europa: Schweigen. Oder nein: Worte wiederholen, von anderen. Den Anfang von Juri Gagarins Rede an die Erdbewohner, zum Beispiel: "H , !" . Auch diese Botschaft wäre nicht mehr angekommen.
Im Herbst, der mit den losen Blättern auch die Verwehungen gebracht hatte, hatten Laura, Marco und Pedro noch an ein Weiterkommen geglaubt. Daran, dass Fenster und Türen kommen würden und mit ihnen Heizkörper, Sanitäranlagen, Möbel und Papiere. Die Arbeiter, die ohne Netz auf den windschiefen Gerüsten turnten, schliefen jetzt, in dicke Decken gewickelt, im Flur vor den halbfertigen Zimmern. Im Spätsommer hatten sie noch Grimassen geschnitten, hinter den zerbrochenen Scheiben frivol zur Schau gestellt, was sie nicht hatten. Auch Laura, Marco und Pedro hatten es nicht: das Gesundheitszeugnis und die Residenzkarte. Selbst nicht nach den Untersuchungen im Krankenhaus, mit den Rissen in den Wänden, dem Schimmel am Plafond und dem Moos am Boden.

"Choroscho, spasibo!", russisch für "Gut, danke!".