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Neuerscheinungen 2016

Stand: 2020-02-01
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Torben Ibs

Umbrüche und Aufbrüche


Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995. Dissertation
2016. 414 S. 24 cm
Verlag/Jahr: VERLAG THEATER DER ZEIT 2016
ISBN: 3-9574909-3-6 (3957490936)
Neue ISBN: 978-3-9574909-3-3 (9783957490933)

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Friedliche Revolution und deutsche Wiedervereinigung gingen an den Theatern im östlichen Deutschland nicht folgenlos vorbei. Bis 1989 oft genug gesellschaftliche Katalysatoren, bedeuteten die Folgejahre vor allem eins: Krise durch fehlendes Publikum und unsichere Finanzierung. Auch die Frage nach den Aufgaben und Zielen von Theaterarbeit stellte sich fundamental neu.

Torben Ibs untersucht nicht nur den Strukturwandel von Theatern und Kulturpolitik in Ostdeutschland. Im Fokus steht auch die Frage, wie sich das Verständnis von Theater im gesellschaftlichen Kontext verändert hat: Zwischen dem Willen zum Bewahren und dem Abschneiden alter Zöpfe eröffnet sich ein schillerndes und bisweilen widersprüchliches diskursives Feld im Wandel. Die erste empirische Bestandsaufnahme zum Elitenwandel im Theater Ostdeutschlands.
Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm
basteln zwei Knaben an einer Lokomotive herum,
die auf einem abgebrochenen Gleis steht.
Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick,
daß ihre Mühe verloren ist:
dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen,
aber ich sage es den Kindern nicht,
Arbeit ist Hoffnung,
und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat
als auf das Verschwinden des Menschen zu warten.

Heiner Müller, Der Auftrag1

Prolog

Am 11. Oktober 1989 wird das Berliner Ensemble nach halbjähriger Renovierung wieder eröffnet und seinem geordneten Theaterbetrieb für die 40. Spielzeit des Hauses übergeben. Intendant ist seit 1977 Manfred Wekwerth, zugleich Präsident der Akademie der Künste und Mitglied im Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Einer der Festredner ist Volker Braun. In seinem Prolog zur Eröffnung des BE heißt es in der vierten Strophe:

Unsere Bühne, Raum bietend
Den großen Widersprüchen
Wird wieder eröffnet.
Der Planwagen der Händlerin
Und der Eisenwagen der Genossen
Stoßen aufeinander. Was für alte
Fahrzeuge, die nicht wenden können! Ihre sichtbare
Schwierigkeit macht uns Mut
Zu einer andern Bewegung. Eröffnen wir
Auch das Gespräch
Über die Wende im Land.2

Die Wende ist also eine Erfindung des Theaters und Egon Krenz bedient sich am 18. Oktober 1989, als er auf der ZK-Tagung als neuer SED-Generalsekretär "Wende" und "Dialog" verspricht, offensichtlich der von Braun geschmiedeten Sprachmetapher. Das Theater und die Bürgerrechtsbewegung, von denen die Forderung nach Dialog stammt, beliefern die Politik. Der Diskurs der intellektuellen Dissidenz bricht sich Bahn bis in die Spitzen des Staates. Ob Krenz dabei das Gleiche unter Wende versteht wie Braun, ist unwahrscheinlich. Das Braunsche Bild lässt immerhin den Planwagen der Mutter Courage, Symbol des amoralischen Kapitalismus, und Lenins Panzerzug, Symbol des erstarrten Sozialismus, - beide gleichermaßen Blut saufend - ohne Wendemöglichkeit aufeinanderprallen. Reibung erzeugt Wärme. Die Hoffnung, ja, die Utopie ist, dass aus den freigesetzten Kräften, den stiebenden Funken, dem Splittern von Holz und Metall etwas Neues entsteht. Auferstanden aus überkommenen Gedankenruinen und der Zukunft zugewandt. Die Möglichkeit eines dritten Wegs. Eine solche Wende, wir wissen es heute, wird es nicht geben. Der stalinistische Panzerzug implodiert und die westdeutschen Mütter (und vor allem Väter) Courage sammeln in der Folge die Reste ein. Zwischen ihnen irren die orientierungslos gewordenen Chronisten und Landvermesser, die manche für Propheten halten, umher. Die Bonner Republik hat einen guten Magen. Sie wird ein ganzes Land auffressen und es - mit einigem treuhänderischen Magengrimmen - gut verdauen. Dass sie dabei eine andere wird, steht auf einem anderen Blatt der Geschichte. Über die DDR, diese Fußnote der Geschichte, wird der Engel derselben hinweggehen - im Planwagen. Und hinter seinem Rücken kann man noch lange die erkalteten und pittoresk anmutenden Fragmente des zerstobenen Panzerzugs erkennen. Doch einige Funken werden weitergetragen, einiges Glimmen verlöscht nicht. Diese Überreste setzen den Planwagen nicht in Brand, sind aber für manchen Mitreisenden wärmende Lichtquellen, die in die neue Umgebung eingepasst werden müssen. Dass sie dabei nicht dieselben bleiben, liegt auf der Hand. Von diesen Bearbeitungen, Lösch- und Anfachunternehmungen, diesem Beharren und Verändern spricht diese Arbeit. Und wie sie den bundesdeutschen Planwagen verändern.

1 Müller, Heiner, "Der Auftrag", in: Werke, Frankfurt am Main 2008a, Bd. 5: 11-42, S. 33.
2 Braun, Volker, Lustgarten, Preussen. Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main 2000, S. 139.